Was macht ein Historiker eigentlich?
Wenn ich sage, dass ich Historikerin bin, werden mir viele Fragen zu meiner Arbeit gestellt. Einige werde ich hier beantworten.
Übrigens: Wenn Sie auch noch eine Frage haben, die Sie mir gern stellen würden, schreiben Sie sie mir unter rsb-hinrichs@web.de oder auf WhatsApp unter 0178 9034838. Ich freue mich darauf, eine Antwort zu geben!
Die erste Frage war, was uns Geschichte nützt. Hier kommt die zweite Frage:
Was macht ein Historiker eigentlich?
Grundsätzlich interessiert sich ein Historiker von Haus aus für alles, was mit Geschichte zu tun hat. Aber was hat nicht mit Geschichte zu tun?
Man müsste schon eine Eintagsfliege sein, um keine nennenswerte Geschichte zu haben. Wir Menschen beziehen einen Großteil unserer Identität aus unserer eigenen Lebensgeschichte, die eng verwoben ist mit der Geschichte unserer Familie, unserer Wohnorte, unseres Landes. Geschichte befasst sich mit der Gesamtheit des menschlichen Lebens in der Vergangenheit, und diese hat immer Auswirkungen auf die Gegenwart. Sogar dann, wenn man die Vergangenheit zu leugnen versucht.
Geschichte hilft Menschen ganz konkret, sich in ihrem Leben und ihrer Identität zurechtzufinden. Wenn Sie an einen neuen Wohnort ziehen und sich dort verloren fühlen, rate ich Ihnen, sich mit der Herkunft des neuen Wohnorts und mit den Menschen, die dort vor ihnen gelebt haben, zu befassen. Wenn Sie beispielsweise wissen, dass die ersten Siedler dort im Mittelalter Waldgebiete roden sollten und mit einem klangvollen Namen an einen Ort gelockt wurden, an dem es rein gar nichts gab – dann werden Sie sich gleich nicht mehr so einsam fühlen. Es gab Menschen, die sich vorher dort genauso unwohl gefühlt haben, aber denen es gelungen ist, mitten im Sumpf und unter Fliegen eine Heimat daraus zu machen. (Sonst gäbe es den Ort nach über tausend Jahren längst nicht mehr!) Dann kann es Ihnen auch gelingen – wahrscheinlich haben Sie eine wesentlich bessere Ausgangslage!
Aber nicht alle Menschen haben die Muße, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen. Die Lektüre eines dicken Buches, das die lahmste Liebesgeschichte wie Spannungsliteratur erscheinen lässt, ist nicht jedermanns Sache. Außerdem sind viele historische Werke nicht für das breite Publikum geschrieben worden und sind dementsprechend überfrachtet mit fremdsprachigen Zitaten und Verweisen auf andere Forschungsarbeiten. Und natürlich finden Sie die Geschichte ihrer eigenen Familie, das, was Sie am meisten betrifft, nicht darin. Sie stehen allein mit dieser Kiste auf dem Dachboden, auf die Oma Hildegard immer so stolz war – voller alter Ketten, Teller und Münzen. Und die Liste der Erklärungen ist in Sütterlin geschrieben. Irgendwann verlieren Sie die Nerven und schmeißen alles weg – und dann erfahren Sie niemals, dass Ihr Urgroßvater ein Weltenbummler war und Ihre Großmutter als kleines Mädchen adoptiert hat. Dass ihre Großmutter aber immer dazugehören wollte und deshalb nie darüber gesprochen hat. Und dass das der Grund dafür ist, weshalb Ihre Cousins heute sagen, dass Sie nicht in die Familie passen…
Historiker nehmen Ihnen die Arbeit ab, für die Sie keine Zeit haben, weil Ihre Aufgaben andere sind. Sie helfen Ihnen, das, was an der Vergangenheit für Sie wichtig ist, zu verstehen und sich heimischer zu fühlen. Sie übersetzen und erklären Ihnen das, was heute kaum noch verständlich ist. Sie schreiben für Sie und Ihre Kinder und Kindeskinder Ihre Lebensgeschichte und die Ihrer Familie auf. Sie lösen für Sie manche Rätsel, die Sie selbst nicht verstehen.
Somit sind Historiker Übersetzer, Lehrer, Landkartenleser, Chronisten, Detektive. Sie können noch viel mehr sein und sich anpassen wie ein Chamäleon.
Immer dann, wenn es nötig wird.